Löwenpositionen / The Lions’ Turn (Ulm 2019) Print E-mail

 

 

 

 

 

Löwenpositionen

The Lions’ Turn

 

(Ulm 2019)

 

 

 

 

 

 

 

 

 

was hat der Löwe gesehen?

was hat denn der Löwe damit zu tun?

 


leider unrealisiertes Denkmal für die Opfer

von NS- Zwangssterilisierungen und „Euthanasie“-Morden in Ulm

 



 

 

 

 


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Erinnerungszeichen für die Opfer von NS-Zwangssterilisationen
und „Euthanasie“-Morden in Ulm
(Entwurf Hoheisel & Knitz)


Der klassizistische Bau des Landgerichts ist bereits ein Denkmal und bedarf keines weiteren Denkmals. Zu seiner Zeit als Erbgesundheitsgericht war es der Ort juristischer NS-Täter. Sie urteilten nach Gesetzen, wie heute die Richterinnen und Richter im Landgericht auch nach Gesetzen urteilen.

Das Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses ist aus heutiger Sicht ein menschenverachtendes, kriminelles Gesetz. Trotzdem bestand es in Teilen im Gegensatz zur DDR in der Bundesrepublik fort und Richter urteilten danach (bis 1998). Die Opfer wurden lange Zeit (bis 2007) nicht als NS-Opfer anerkannt und ihnen wurde bis 2011 kein Recht auf Entschädigung zugesprochen. Die Opfer sind heute fast alle verstorben. Eine Entschädigung wäre eine größere, notwendigere Geste gewesen, als ihnen jetzt nach ihrem Tod ein Denkmal zu setzen.


Deshalb schaffen wir kein neues Denkmal, sondern verändern das Baudenkmal Landgericht Ulm in folgender Weise:

 


Der beim Betreten des Gerichts linke Portallöwe wird von seinem Sockel genommen und auf der für das Denkmal vorgesehenen Fläche vor dem Landgericht so aufgestellt, dass er auf das Gerichtsgebäude blickt.

 


Vor seinen Augen werden im Sockelbereich zwei transparente Tafeln angebracht. Die linke trägt Bilder und Texte zur Geschichte der NS-Zwangssterilisation und ihrer Opfer, die rechte trägt Bilder und Texte zur Geschichte des Patientenmordes und die Namen der 160 Opfer aus Ulm und Umgebung.

Auf den gläsernen Gedenktafeln wird auf den Zusammenhang der Zwangssterilisation (Erbgesundheitsgericht) mit den Patientenmorden (Gesundheitsamt in unmittelbarer Nachbarschaft) hingewiesen. Die NS-Geschichte beider Gebäude wird benannt.

 


Der von seinem herrschaftlichen Portal gestiegene, nun friedlich daliegende Löwe, scheint die Geschichte(n) auf den Gedenktafeln zu lesen und fordert somit die Passanten zum Mitlesen auf. Als Portallöwe bewachte er als Herrschafts- und Machtsymbol die Freitreppe und die schwere Eingangstür zum Gericht. Nun „bewacht“ und „liest“ er auf gleicher Augenhöhe mit den Passanten die Geschichte der Zwangssterilisation und das Erinnerungszeichen mit den Namen der Euthanasieopfer auf der Wand des Gerichts.

 


Bei der Gestaltung der Gedenktafeln können Bürgerinnen und Bürger aus Ulm, Vertreterinnen und Vertreter der Opfergruppen und Gedenk-Initiativen, aber auch Richterinnen und Richter des Landgerichtes mitwirken.

 


Wir wollen mit der Versetzung und Transformation des Portallöwen - einem Symbol von Macht und Herrschaft - eine leichtere, demokratische, aber doch wachsam daliegende Ausdrucksform des Löwen schaffen: dem Menschen näher, wie in Albrecht Dürers Kupferstich „Der heilige Hieronymus im Gehäus“. Dazu einige Zeichnungen, die während der Arbeit an diesem Entwurf entstanden sind.


Dezember 2018
 


Horst Hoheisel & Andreas Knitz

 

 



 

 

 




 



zur Geschichte des nicht realisierten Entwurfs:


Bedenken der Denkmalpflege:
die Versetzung des Portallöwen sei ein denkmalpflegerisches "No-Go"
Bedenken des "Hausherren" / Landgericht:
das Gleichgewicht der Justiz sei durch die Wegnahme des Portallöwen gestört

Bedenken der Jury des Gestaltungswettbewerbs: es braucht zu viel Zeit um diesen Entwurf durchzusetzen, da die Belange der Denkmalpflege berücksichtigt werden müssen....Das Landesdenkmalamt muss involviert werden....Die Gelder sind für dieses Jahr (2019) bewilligt und müssen auch ausgegeben werden....Deswegen darf es keine Verzögerungen geben...(Anmerkung: nach über 80 Jahren käme es darauf nun auch nicht mehr an!)

 

 


Aspekte zur Denkmal-Pflege

Im klassischen Sinne des zu bewahrenden Denkmals und im Sinne eines (Ge-)Denkortes

Der historische Inhalt des Gebäudes, die Nutzungs-Geschichte* und nicht nur die Steine,

sowie die Bausubstanz, sind zu „schützen“ bzw. darzustellen.
*vgl. Reichstag, Hotel Silber, Militärmuseum Dresden etc.

Gedenk-Orte, Erinnerungsorte sind Teil der politischen Kultur, also ein immaterielles Denkmal (und Erbe) gleichermaßen.

Es geht um das materielle und immaterielle Erbe und somit letztlich um die kulturelle Daseinsvorsorge in ihrer Vielfalt." (Ernst-Rainer Hönes / Deutsches Nationalkomitee für Denkmalschutz) Internationaler Kulturgüter-, Denkmal- und Welterbeschutz (Band 74, 2009)

Der klassische Denkmalschutz kann nicht nur die Ur-Substanz bewahren und schützen, sondern muss vorhandene (historische gesellschaftliche, zivilisatorische) Begebenheiten, Themen, Ereignisse, Zäsuren und Brüche (an)erkennen, als Zeichen zulassen, darauf verweisen und auch zeigen können.

Somit können auch künstlerische Zeichen, Eingriffe und Interventionen (in Form eines Denkmals) zugelassen und gezeigt werden.

 

Ulm / Gebäude des Landgerichts / ehemaliges Erbgesundheitsgericht von 1934 bis 1945

 

Elf Jahre lang war das Gebäude in der Zeit des Nationalsozialismus „Erbgesundheitsgericht“ – man sieht dies dem Gebäude nicht an, weil - sorgfältig restauriert - lediglich die Bausubstanz, die Steine geschützt, saniert und gezeigt werden; die Zeit des Zivilisationsbruchs ist jedoch nirgends sichtbar und ist nicht dargestellt.

Die immaterielle Gebäude-Substanz, also die Nutzung der Architektur, ausgedrückt durch ihre jeweiligen Nutzer, scheint ausgeblendet. Nur die Steine und auch die Figuren und Skulpturen sind stumme Zeugen.

 

Der öffentliche Kunst-Wettbewerbsverfahren, zur Erlangung eines Denkmals oder Denk-Zeichens am Landgericht, soll und wird für eine Kollision der Denkmale sorgen.
Es ergeben sich Fragestellungen wie, welche Geschichte wollen wir zeigen und welche nicht? darf man ein Gebäude verletzen? gar zur Verantwortung ziehen? wen oder was schützt die Denkmalpflege?

 

 

Wie die Dinge im Raum stehen ist ganz entscheidend! Gerade da ist es ein Ausdruck dessen, dass da was nicht stimmt, dass da was nicht hingehört oder sein sollte, wo es sein sollte.

 

Zitate aus der Presse:

"Erinnerung kann weh tun" (SüdWestPresse Ulm, 15.03.2019, Kommentar Rudi Kübler): "In der ersten Auswahlrunde zeigte sich das Gremium fast ausnahmslos von dem Ansatz begeistert, einen der Löwen ins benachbarte Grün zu verrücken und damit einen radikalen Bruch zu provozieren. Die Bedenkenträger - nicht nur die beamteten vom Landesdenkmalamt - behielten letztendlich die Oberhand. Aber jetzt fühlen sich alle wohl. Mehr als schade. Denn: geht es um Erinnerung an NS-Verbrechen, sollte Wohlfühlen keine Kategorie sein. Erinnerung kann auch weh tun."

 

Leserbrief von Volker Sonntag, Ehingen (erschienen in der Ulmer Zeitung, 28.03.2019):

 

 

ungekürzte Fassung